Hautpatienten aller Länder, vereinigt euch!
Karl Marx (1818-1883) wäre Anfang dieses Monats 200 geworden. Vor gut einem Jahrzehnt wurde bei ihm posthum eine Hautkrankheit ‚diagnostiziert’, und zwar Acne inversa, auch Hidradenitis suppurativa (HS) genannt, für Marx „Furunkeln, Eiterbeulen und Karbunkeln.“ Aus einer historischen Untersuchung des britischen Dermatologen Sam Shuster erfahren wir, dass Marx „auf seinem After und nahe des Penis“ unter ihnen litt.
Halten wir uns nicht an Spekulationen über den Zusammenhang zwischen dieser Krankheit und und Marx‘ Werk bzw. politischem Wirken auf. Was auch immer man von ihm hält, so bleibt er doch eine Inspiration für Ökonomen, Soziologen, Philosophen, Politikwissenschaftler und Historiker. In einer Zeit, in der „Junk Science“ zur einflussreichen wissenschaftlichen Disziplin aufgestiegen ist, vermag es nicht zu verwundern, dass Marx auch Lifestyle-Epidemiologen inspiriert. Zwei von dieser Sorte, nämlich Rudolf Happle und Arne König (Dermatologie/Uni Marburg), legten ein paar Monate nach Shuster eine ‚Studie‘ vor, die die Ursache von Marx‘ Hautkrankheit nachweisen sollte.
„Rauchen ruft Acne inversa hervor” lautete die bahnbrechende Erkenntnis in ihrem ebenfalls im British Journal of Epidemiology (BJD) erschienenen Beitrag. Gewiss wusste Marx Zigarren zu schätzen, Zeitzeugen zufolge war er sogar ein „leidenschaftlicher Raucher“ – wie viele einflussreiche Denker und Revolutionäre. Aber wie kommen die beiden Hautärzte auf diesen Zusammenhang? Sie führen zwei Umfragen an, davon eine eigene, denen zufolge ein hoher Prozentsatz der HS-Patienten aktive Raucher waren, mehr als in der Vergleichsgruppe. Es bedarf keiner Erwähnung, dass die Aussagekraft solcher Studien aufgrund ihrer Methodik (Stichprobenziehung oft ohne Zufallsauswahl, geringe Fallzahlen, Nichtberücksichtigung anderer Risikofaktoren usw.) enge Grenzen hat. Aber in Kombination mit einer Laborstudie für diese Wissenschaftler offenbar Beweis genug, um sich darüber zu beklagen, dass Rauchen nicht als Risikofaktor „von entscheidender ursächlicher Bedeutung” für HS anerkannt worden sei.
Verschiedene Medien, wie etwa das Ärzteblatt, haben diesen Punkt damals aufgegriffen. Ohne aber die Replik des o.g. Prof. Sam Shuster zu erwähnen, der in der gleichen BJD-Ausgabe auf dem Fuße folgte. „Happle und König gehen weit über das hinaus, was der Forschungsstand erlaubt”, erläuterte er in seiner scharfzüngigen wie hellsichtigen Analyse und verwies darauf, dass von den 63 erwähnten Patienten aus der Umfragen der beiden Marburger Dermatologen nur 32 vor ihrer Hautkrankheit mit dem Rauchen angefangen hatten, 10 hingegen erst NACH Auftreten von Acne inversa. „Bei der Behauptung, Rauchen befeure HS, handelt es sich um eine völlig unbewiesene Unterstellung.“ Selbst im Fall des historischen ‚Patienten‘ Marx hält die Folgerung der Autoren wissenschaftlicher Betrachtung nicht stand: „Wenn die meisten in seinem Umfeld geraucht hätten, würde Marx‘ Rauchverhalten jegliche statistische Signifikanz fehlen“. Da bräuchten wir schon mehr Daten und Fakten aus dieser Zeit.
Für Shuster ist Happles und Königs Beitrag zum Tabak-Bashing ein typisches Beispiel für den Missbrauch statistischer Zusammenhänge in der Epidemiologie.
„Ursächlichen Mechanismen kann man aus ihnen nicht ableiten; die ständigen unqualifizierten Versuche, dies doch zu tun, führen nur zu den täglichen Horrorgeschichten und ganzen Listen von nicht fundierten Zusammenhängen, die unsere Zeitschriften und Zeitungen verstopfen. Der Gebrauch dieses epidemiologischen Bastardersatzes für Wissenschaft metastasiert wie Krebs. Er schadet echter Forschung sehr und untergräbt das Vertrauen der Öffentlichkeit in die medizinische Wissenschaft. Der alte Marx war ein strenger Denker, sehr auf wissenschaftlichen Rationalismus erpicht, und hätte diese Entwicklung verachtet. Aber er verfügte auch über einen sehr eigenen Sinn für Humor, und hätte das lachend abgetan – zwischen Raucherhusten-Anfällen.“
Weise Worte. Bleibt nur hinzuzufügen, dass die kritisierte Vorgehensweise in der Anti-Raucher-Forschung allgemeiner Standard ist – und wer sich dieses „Bastardersatzes für Wissenschaft” bedient, vielleicht selbst nur als „Bastardersatz” eines Wissenschaftlers durchgeht.
Dieser Artikel ist ursprünglich 2008 erschienen.